Der 29. März 2015 könnte einen Wendepunkt markieren. Es ist jener Tag, an dem die HBO-Doku Going Clear – Scientology and the Prison of Belief in den USA lief. Es waren weniger gigantische Einschaltziffern, als vielmehr ein Umdenken, das festzustellen ist. Die 1,7 Millionen Primärseher waren zwar für einen Bezahlsender durchaus zufriedenstellend, aber viel interessanter ist die Reaktion, sowohl von anderen Medien, als auch auf politischer Ebene. Im deutschsprachigen Raum ist es oft so, dass eine Doku fast 10 Millionen Zuseher hat – und danach wenig bis gar nichts geschieht. Man ließ sich berieseln, wusste es ohnehin und der jeweilige Sender freute sich über die Einschaltziffern.
Going Clear könnte anders sein. Die Doku bestach weniger durch gigantische Quoten, als durch das Auslösen einer Reaktion – und Scientology wurde in einer für Außenstehende nachvollziehbaren Art und Weise dargestellt. Viele Ansatzpunkte wurden sichtbar gemacht, z.B. die Rollen von Tom Cruise oder John Travolta und wie sie in die Sektenpropaganda eingespannt wurden bzw. werden. Da ist aber auch jenes Schlüsseldatum, an dem Scientology in den USA den Turnaround von einer vom Staat bedrängten Sekte zur bona fiden Religionsgemeinschaft „geschafft” hatte: Der 1. Oktober 1993 markiert ihn und das entsprechende „Abkommen“ mit dem amerikanischen International Revenue Service (IRS).
Was außerdem noch auffällt? Scientology hat in den letzten beiden Wochen mit keinem Wort, Anwaltsbrief oder sonst etwas reagiert. Nach dem Abklingen der ersten Schockstarre wurde John Travolta ausgesandt, um zu beteuern, wie toll Scientology wäre, was eigentlich eher hilflos wirkte. Aber immerhin trug er keine Frauenunterwäsche und hatte keinen Masseur im Arm.
Das Ganze wurde in der abgelaufenen Woche dann durch weitere Enthüllungen in den Schatten gestellt, als bekannt wurde, dass Sektenführer David Miscavige seinen eigenen Vater beschatten ließ und die Rückmeldung, dass dieser einen Herzinfarkt erlitten hatte, mit den Worten „Lass ihn sterben!“ quittierte. Aber nun der Reihe nach …
HBO: Der Qualitätssender im Besitz von Time Warner, der die Doku Going Clear bewerkstelligte, hatte sich zwar mit eigenen Anwälten abgesichert, aber auch zwei Wochen danach noch nichts von Scientology gehört, wie ein Bericht von CNN zeigt …
White House Petition: Unmittelbar nach Ausstrahlung der Doku Going Clear wurde eine Petition an das Weiße Haus verfasst, die eine Revidierung des IRS-Scientology-Abkommens in Bezug auf die Steuerbefreiung der Sekte verlangt. Im Moment sind es 22.927 Unterschriften, die bisher gesammelt wurden. Hier der Link zur Petition …
Australien: Going Clear hat mittlerweile auch Australien erreicht und der unabhängige Senator Nick Xenophon möchte den Charity-Status von Scientology, der Steuerbefreiung mit sich bringt, untersucht wissen – hier der Blog von Jonny Jacobsen und ein Bericht von Studio 10 dazu …
Going Clear: Alex Gibney, der Regisseur der Doku, denkt derweil über einen zweiten Teil nach – hier der Artikel in Radar Online …
Ron Miscavige Sr.: Eine Meldung der vergangenen Woche betraf einen Umstand, der weitere Einblicke in das Sektensystem gewährte. Es ging um den Vater von David Miscavige, Ron Sr., der 2011/12 aus der Sea Org geflüchtet war und dessen Überwachung durch Privatdetektive im Auftrag seines Sohnes David …
Aufgedeckt wurde das Ganze durch einen Bericht der Los Angeles Times, der vom Privatdetektiv Dwayne S. Powell und seinen Sohn Daniel handelte. Beide waren für ein Wochenhonorar von 10.000 Dollar rund um die Uhr damit beschäftigt, Ron Miscavige Sr. zu beschatten – 18 Monate lang. Ausgeflogen war das Ganze, als Powell verhaftet wurde, da er einen illegalen Schalldämpfer benutze. Während der Verhöre gestand dieser seine Beteiligung an der Scientology-Miscavige-Überwachung – hier der Artikel in der Los Angeles Times …
Im Kontext von Scientology ist es nicht außergewöhnlich, dass „Feinde“ der Sekte von Privatdetektiven überwacht werden. Vor allem nicht in den USA. Der 79-jährige Vater von David Misavige kennt zweifellos einige Geheimnisse seines Sohnemanns und lebte außerdem in engem Kontakt mit Ron Jr., dem Bruder Davids, der ebenfalls aus Scientology ausgestiegen ist und überdies der Vater von Jenna Miscavige-Hill ist, die als offene Gegnerin von Scientology auftritt.
Das wirklich Bemerkenswerte betraf dann eine Episode im Rahmen der lückenlosen Ron Sr.-Überwachung. Dieser hatte einen Herzanfall erlitten und Powell meldete dies, worauf ihn eine Person, die sich als David Miscavige vorstellte, zurückrief. Die Ansage von Miscavige war dabei klar – Powell: „Wenn seine Zeit zu sterben gekommen ist, dann sollte man ihn sterben lassen und nicht eingreifen!“
Hier ein Bericht von NBC Today …
Ausschnitte des Polizeiverhörs mit Dwayne S. Powell (Quelle: TMZ) …
Dazu jeweils ein Artikel im Stern und Focus, sowie drei Blogs von Tony Ortega – Nummer 1, Nummer 2 und Nummer 3 zum Weiterlesen …
Die Miscavige-Family: Anlässlich der jüngsten Ereignisse rund um den Vater des Sektenführers lohnt ein kurzer Blick auf die Familiengeschichte. Ron Sr. und Loretta Miscavige hatten sich 1971 Scientology angeschlossen und in weiterer Folge wurden auch ihre vier Kinder Mitglieder der Psychosekte. David Miscavige war bereits im Alter von 12 Jahren ein sogenannter Auditor und wurde als 16-jähriger Mitglieder der paramilitärischen Sea Org, der sich auch sein älterer Bruder Ron Jr. anschloss. David wurde im Umfeld von L. Ron Hubbard dessen Nachfolger und beide bekleideten Spitzenpositionen. Ron Sr. wurde ebenfalls Mitglieder der Sea Org, wo er über 30 Jahre als Musiker „diente“ und ließ sich von Loretta scheiden, da diese einen Eintritt in das „Elite Corps“ von Scientology verweigerte.
Ron Jr. verließ Scientology 2000 und seine Tochter Jenna 2005. In ihrem Buch Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatisch Flucht beschrieb sie ihre Kindheit bzw. Jugend und ist eine entschiedene Gegnerin ihres Onkels bzw. Scientology.
Loretta erreichte die höchsten „Weihen“ von Scientology – OT VIII – und verstarb 2005 an Krebs. Ihre Tochter Lori Miscavige Vernuelle ist nach wie vor ein sogenannter Public und im Netzwerk zugange – aber eher unauffällig. Ganz im Gegenteil zu Denise, der Zwillingsschwester von David. Denise Miscavige aka Licciardi aka Gentile nahm verschiedene Rollen im Scientology-Umfeld ein, u.a. in dem von Scientologen geleiteten Unternehmen Digital Lightwave, wo sie in einen Bilanzskandal verwickelt war, ihre Verstrickung im mysteriösen Selbstmord von Kyle Brennan und 2013 wurde sie wegen Drogenmissbrauchs angeklagt – hier ein Bericht der Tampa Bay Times dazu …
Ron Sr. setzte 2012 einen Schlusspunkt hinter Scientology und lebte danach bei seinem Sohn Ron Jr. in Virginia. Obwohl er sich nicht kritisch zu Scientology äußerte, ist bereits der Umstand, aus Scientology ausgetreten zu sein, genug, um als sogenannte Suppressive Person gebrandmarkt und im Fall von Ron Sr. von Detektiven überwacht zu werden. Wenn man sich, wie Michelle „Shelly“ Miscavige, der Ehefrau von David, noch innerhalb der Sea Org aufhält, verschwindet man dagegen nur – Shelly ist seit 2006 nicht mehr auffindbar, soll aber noch leben. Ihre Mutter, Florence Barnett, teilte ihr Glück nicht – sie erschoss sich 1985, nachdem sie sich zuvor einer von Scientology abgespaltenen Gruppe angeschlossen hatte, unter mysteriösen Umständen.
Hillary Holten: Gestern jährte sich der Todestag der 22-jährigen – sie war am 11. April 2012 in NARCONON-Arrowhead im Rahmen des „Drogenentzugsprogrammes“ von Scientology gestorben. R.I.P. Hillary …
Hier der Link zu ihrer Memorial Page …
Robert Vaughn Young: Er war US-Sprecher von Scientology und u.a. Herausgeber des zehnteiligen Science Fiction-Romans Mission Earth, dem Alterswerk Hubbards. Im Januar 1986 war er in der unmittelbaren Umgebung von L. Ron Hubbard, als dieser starb. Hier das komplette Interview im Rahmen der Doku Secret Lives …
Die Abteilung: David Miscavige hatte es in den letzten Wochen nicht einfach, was ein anonymer Zeichner zum Ausdruck brachte …
Er schwankte zwischen Depressionen und der üblichen Zwangseuphorie eines Scientologen, als er z.B. das A-Team rief …
Dann ließ er weitere Papageien einfliegen, von denen es ja einige in seinem Reich gibt …
Und dann sah er sich wieder so, wie er sich gerne sah …
Oder doch so, wie ihn Tommy und John so gerne hatten?
Das mit seinem Vater wurde natürlich aus dem Zusammenhang gerissen. Sein alter Herr war fast 80, man musste nach ihm sehen – also was soll’s? Außerdem gibt es bei Scientology sowieso keinen Rentenanspruch. Seine Mit-Scientologen verstand ihn und ließen ihm einen Award zukommen …
Sicherheitshalber hatte er trotzdem ein SMS an Charles Manson geschrieben – man weiß ja nie und Charlie war irgendwie ein Seelenverwandter. Er hatte ja sonst fast keine …
So schlimm war die Going Clear-Doku doch gar nicht – odrrr, Herr Stettler? Und auch das Buch von Tony Ortega würde er überleben …
Auch heute das Wort am Sonntag: „Ich finde, dass man dem Komplex rund um Scientology, RTC, IAS und wie sie alle heißen mögen, ganz dringend jede rechtliche Basis entziehen sollte – es gibt schon genug Menschenverachtendes bzw. Kriminelles auf der Welt!”
Fotos: Anonymous/Why-we-protest (9), But Thats None Of My Business, Radar Online, Scientology-Publikation